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Tage im Juni - FREUNDE (1) - Ger by Kranich im Exil

Tage im Juni - FREUNDE (1) - Ger


TAGE IM JUNI

Freunde

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Ein schriller Piepton.

Jannik rollte sich herum und schlug noch halb im Traum nach dem Wecker. Traf nichts. Jemand musste nachts heimlich den Nachttisch verrückt haben. Um ihn zu ärgern.

Das Gesicht ins Kissen gedrückt genoss er für einige weitere Sekunden, wie sich der schrille Ton in seinen Gehörgang bohrte. Als versuchte er einen Fisch totzuschlagen watschte seine Hand über den Tisch.

Endlich. Das Piepen verstummte.

Sein Kopf blieb im Kissen versunken. Aber seine Ohren stellten sich auf wie zwei Antennen, um die Lage zu prüfen.

Er lauschte. Einige Vögel. Straßenlärm, leise in der Ferne. Der Rasenmäher des Nachbarn, weil es am frühen Morgen nichts Schöneres gab, als den Vorgarten zu massakrieren. Er hörte, wie sich die Wärme der aufgehenden Morgensonne auf dem Dach ausbreitete und sich die Balken und Wände leise knisternd ausdehnten, als würde das Haus gähnen und sich für den Tag bereit machen.

Er hasste den Morgen. Er kam immer zu plötzlich und jedes Mal riss er ihn aus irgendeinem Traum. Mit fliegenden Schneeleoparden die Savanne durchstreifen oder eine Reise zum Scharlach-Riff, auf dem Rücken eines Stachelrochens. Nie war es ihm vergönnt, das Ende des Traums zu erleben. Jeder Cliffhanger endete mit dem Geschrei des Weckers. Fortsetzungen gab es keine.

Jannik rollte sich schwerfällig zur Bettkante und ließ sich darüber gleiten wie eine Schlange mit dem Elan eines betäubten Faultiers. Mit eingesunkenem Kopf tappte er durch sein Zimmer und grübelte über den gerade so harsch beendeten Traum nach.

Er war am Strand gewesen. Zur Linken endlose Sandberge. Zur Rechten das Meer. Ein Schloss im Wasser. Er musste es erreichen. Die anderen Schüler warteten im Burgturm. Aber der Fahrstuhl war kaputt und der Rapper Ze-Brah meinte, die Schlingpflanzen im Garten würden Anthros fressen. Einige Mitschüler waren ihnen bereits zum Opfer gefallen — eingehüllt in Ranken, wie die Kokons einer gigantischen Spinne. Aus ihren aufgerissenen Mündern und Augen wuchsen rote Blumen.

Er erreichte den Spiegel und öffnete zum ersten Mal die Augen. Er blinzelte und leckte sich über die Pfotenballen, um sich über das Gesicht zu fahren und den Fellwald zu bändigen. Irgendwo unter den Zotteln konnte man mit etwas Mühe einen kleinen Luchs finden. Er fuhr durch das Fell seiner Wangen, fächerte es auf und strich es gerade. Die Büschel an seinen Ohren stellte er auf. Sie gehorchten nicht und bogen sich wieder ein. Wie üblich. Gut, dass die Natur für solche Zwecke Haargel erfunden hat.

Für einen Moment betrachtete er sein buschiges Gesicht. Einer der Flecken im Fell schien langsam dunkler zu werden. Genau der auf seiner Stirn. Bitte nicht. Der sieht bescheuert aus.

Dann blickte er auf. Streckte sich und fauchte, um die Müdigkeit aus seinem Körper zu scheuchen. Der Traum bedeutet Sozialangst. Ganz klar.

An der Treppe angekommen hörte er die Stimmen seiner Mutter und seines Vater aus der Küche. Sie unterhielten sich angespannt über etwas, schienen die Diskussion aber leise halten zu wollen.

Er vernahm nur vereinzelte Worte, die mit beunruhigender Dringlichkeit gesprochen wurden. Es schien um die Schule zu gehen. Für Jannik ein heikles Thema. Ein Überfall. Verletzungen. Krankenwagen.

Er hielt auf der Treppe inne und ging in die Hocke. Lauschte.

  »Sein Gesicht wurde fast aufgerissen. Er hat Glück gehabt, dass kein Auge getroffen wurde.«

  »Das ist doch irre! Krallen sollten gestutzt sein, damit sie niemanden verletzen können.«

  »Entweder die Schulleitung sorgt nicht für die Einhaltung der Regeln oder der Angreifer geht nicht auf die Schule. Das wird sich noch herausstellen.«

Jannik folgte dem Gespräch für einen Moment, konnte sich jedoch nicht zusammenreimen, um wen es sich drehte. Er erhob sich und stellte sicher, dass seine Schritte besonders laut waren, damit seine Eltern bemerkten, dass er wach war. Dann hatten sie genug Zeit, das Gespräch zu beenden und so zu tun, als wäre nichts passiert.

  »Morgen«, begrüßte ihn Isak vom Küchentisch aus, während er auf seinem Tablet die Lokalnachrichten studierte. Mit dem Löffel rührte er in einer Schüssel Haferbrei herum.

Kaja sah kurz von ihrem Laptop auf und lächelte. »Gut geschlafen, Puschel?«, fragte sie und schob ihm ein Glas laktosefreie Milch entgegen.

Er murrte nur, was sowohl ja als auch nein bedeuten konnte.

Dafür, dass die beiden eben noch in hitzige Diskussionen vertieft waren, herrschte nun Stille, mit Ausnahme des eifrigen Tippens seiner Mutter auf ihrem Laptop. Ihre Ohren wippten rhythmisch auf und ab und ihr Gesicht nahm stets die ulkigsten Ausdrücke an, wenn sie angestrengt an etwas schrieb. Sie brauchte keine Smileys, wenn sie einfach zu jeder Antwort ein Foto von sich selbst anhing.

Noch immer spukte der Traum in Janniks Kopf herum. Der Strand, der sich in die endlose Weite zog. Das glatte, graue Meer, aus dem in der Ferne das Schloss wie ein Fremdkörper herausragte. Wie der Kopf eines großen, unförmigen Tieres, das sich unter der Wasseroberfläche verbarg und ihn anstarrte. Das Meer machte ihm Angst.

Während er grübelte ließ er seinen Blick ziellos über den Küchentisch kreisen. Schinken. Eier. Lachs.

Kaja schien seinen unzufriedenen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben, ohne aufzublicken. »Das Müsli ist im Schrank«, sprach sie. Jannik nickte. Müsli war gut. »Coco Crunch Wild. Mit knackigen Schinkenstückchen.«

Isaks Augenbrauen bewegten sich im Takt von Kajas Tippen. Nach einer Weile meinte er: »Die Kollektion scheint ja gut anzukommen.«

Kaja seufzte. »Ein Kunde behauptet, das Gevir sei kleiner als sein eingeschicktes.«

  »Vielleicht ist es dir eingelaufen.«

  »Es war nicht einmal geschliffen und poliert. Nur natur lackiert.«

  »Dann ist sein Kopf eben geschwollen. Wäre nicht der erste.«

Jannik kaute wortlos auf dem Müsli herum. Er sah abwechselnd seine Mutter und seinen Vater an. Grimmig blickte Isak auf das Tablet. Die Streifen über seinen Augen und sein buschiges, raues Fell verliehen ihm einen nachdenklichen, leicht finsteren Blick. Fremde waren ihm gegenüber vorsichtig, da man leicht annehmen konnte, er wollte einem jeden Moment an die Gurgel springen. Dabei war er der gemütlichste Kater, den Jannik kannte. Abgesehen von den flachsen Kommentaren, die ihm scheinbar beiläufig aus dem Mund glitten.

Kajas Streifen hingegen betonten ihre großen kastanienbraun schimmernden Augen. Isak war breit und kräftig, sie zierlich, was bei einer Luchsin aber immer noch stattlich genug war.

Sie war Kunsthandwerkerin, er Polizist. Jannik fragte sich, wie sich die beiden kennengelernt hatten. Hatte der grimmig dreinblickende Isak ihre schimmernden Augen auf dem Schulhof entdeckt und war zu ihr hinübergegangen oder war Kaja diejenige, die den Wuschelkopf mit Grummelblick zuerst angesprochen hatte? Hatten sie sich auf Anhieb gut verstanden oder mussten sie einander erst mögen lernen?

Er schluchzte innerlich.

  »Was macht dir Sorgen?«, fragte Kaja nach einer Weile, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie sah ihn kurz an. Morgens trugen ihre Augen einen fast goldenen Schimmer.

Er zuckte nur mit den Schultern. Sie schien sich damit jedoch nicht zufrieden geben zu wollen. »Deine Ohren hängen herunter.« Ihren goldenen Morgenaugen entging nichts.

Er rührte im Müsli herum. »Ich möchte nicht zur Schule gehen«, platzte er dann heraus.

Die Antwort riss Isak vom Tablet los. Er sah Jannik überrascht an, als hätte er soeben verkündet, er plane mit dem Nachbarn eine Reise auf die Hackspett-Inseln, um dort einem Nacktkult beizutreten, der Staudensellerie anbetet.

  »Aber du magst die Schule«, warf Kaja verwundert ein und hatte vom Laptop abgelassen. »Du hast erzählt, wie viel Spaß dir das Geschichtsprojekt macht«, erinnerte sie sich.

  »Ja«, pflichtete er ihr bei und ertränkte einige Müslikugeln mit dem Löffel.

  »Hast du Probleme in der Schule?«, fragte Isak ohne Umwege. Jannik zog den Kopf ein.

Kaja warf ihrem Mann einen rügenden Blick zu. Dann wandte sie sich wieder ihrem Sohn zu und lächelte sacht. Durch das sich hebende Fell an ihren Wangen wirkte ihr Gesicht weich und rund.

  »Wenn dich etwas bedrückt, können wir über alles reden«, ermutigte sie ihn.

  »Fast alles«, wandte Isak ein. Kajas tadelnder Seitenblick verstand sich von selbst.

  »Es sind nicht die Projektarbeiten«, erklärte Jannik nach einem Moment des Schweigens. »Sondern die anderen Schüler. Niemand mag mich. Keiner möchte mein Freund sein.«

Kaja strich ihm sanft durch das Kopfhaar und stellte seine Ohren auf. Sie fielen jedoch sofort wieder ein. »Puschel, es gibt viele Kinder in der Schule. Bestimmt würden einige von ihnen gerne mit dir befreundet sein.«

  »Da ist kein anderer Luchs«, warf er trotzig ein.

Kaja und Isak wechselten stumme Blicke.

  »Dort ist auch kein anderer Jannik Aberg«, erwiderte sie. »Was hat ein Luchs, was die anderen Schüler nicht haben? Mit Ausnahme der Puschel.« Sie streichelte ihn an den Ohrbüscheln. Es kitzelte und er musste lachen.

  »Die anderen haben buschige Schweife«, wandte Isak ein.

Kaja verdrehte die Augen. Es klang ganz so, als stünde er noch immer mit dem Nachbarn auf Kriegsfuß. Der war Fuchs und bekannt für nächtliche Ruhestörungen und wechselnde Bekanntschaften, die zu selbigen beitrugen.

  »Stimmt«, entgegnete sie. »Hättest du einen buschigen Schweif, hätte ich dich ein ganzes Jahr früher geheiratet.« Isaks Stummelschweif war ebenso ein sensibles Thema wie nächtliches Fuchsgewusel.

Jannik musste grinsen, als sein Vater genervt das Gesicht verzog, scheinbar über diversen, ausgefuchsten Schabernack nachdenkend.

Isak schien den Gedanken zu verdrängen und beobachtete Jannik, wie er matschiges Müsli mit dem Löffel umherschob. Dann schien es seinem Vater genug zu sein und er verkündete mit belehrendem Unterton: »Du kannst zuhause bleiben und dich in deinem Zimmer verstecken. Aber dort findest du bestimmt keine Freunde.« Kaja sah Isak kurz kritisch an, aber er ließ sich nicht beirren. »Das Problem wird sich nicht durch Nichtstun lösen. Freunde wachsen nicht aus dem Boden. Wenn du welche finden möchtest, musst du etwas dafür tun.«

Er rührte etwas Leberwurst in seinen Haferbrei und musterte Jannik, der grummelig in seine Schüssel starrte, wie in eine Kristallkugel, um darin verborgene Antworten zu erhaschen.

  »Unzufriedenheit ist gut«, meinte Isak. »Sie zeigt dir, dass du etwas machen musst. Je länger du herumsitzt und wartest, desto schlimmer wird sie werden. — Ich habe auch zu lange gewartet«, gestand er dann und warf einen Seitenblick auf Kaja.

Kaja grinste. »Obwohl es jeder schon lange gewusst hatte.«

  »Gesagt hast du trotzdem nichts.«

  »Du musstest deine Schüchternheit überwinden, nicht ich.«

  »Niemand wird dir den Kopf abbeißen«, versuchte Isak Jannik zu ermutigen, » Ein ›Nein‹ ist das schlimmste, was dir passieren kann.«

Er warf einen Blick auf die Uhr, zog überrascht die Augenbrauen hoch und begann eilig etwas Geschirr zusammenräumen. Kaja mahnte ihn jedoch es lieber bleiben zu lassen, da sie später nicht die Scherben vom Fußboden aufkehren wollte.

Jannik brummte. Sein Vater hatte ja keine Ahnung, was schlimm war. Er war erwachsen, konnte tun was er wollte und wenn ihm jemand dumm kam, knurrte er ihn einfach an, mit seinem zotteligen Grummelblick und alle waren still. Mehr noch, er brauchte nur zu erwähnen, dass er Polizist war und alle um ihn herum verfielen in übermäßige Nettigkeit.

Und seine Mutter war Künstlerin. Sie fertigte Skulpturen aus Geweihen, die andere stundenlang anstarrten und meinten, wie gut die Formen und Farben harmonierten. Die meisten Leute hatten nichts für Kunst übrig, aber den Anstand wenigstens so zu tun. Erwachsene besaßen genug Respekt, sich Platz zu machen und sich einen Guten Tag zu wünschen, selbst wenn sie sich auf den Tod nicht ausstehen konnten.

Die Schule aber war wie ein Tiergehege voll von zappeligen Tollwütigen, die einen umstießen, auslachten und anblökten, während ihnen alles egal und zuviel war. Sie waren schlimmer noch als Kleinkinder. Kleinkinder wissen nicht um den Schwachsinn, den sie verzapfen. Jugendliche hingegen sind vorsätzlich schwachsinnig. Sind wilde Bestien. Wie sollte er unter diesen Zootieren einen Freund finden?

Kaja beendete ihre Email und begann das Geschirr einzusammeln. Sie bot Jannik an, ihn zur Schule zu fahren, da sie einige Materialien aus der Stadt benötigte.

Er lehnte ab. Lieber ging er zu Fuß. Mehr Zeit zum Grübeln.

Isak küsste Kaja auf die Wange und streichelte Jannik über den Kopf. Dann spurtete er zur Tür hinaus. Zum Büro, zu Kollegen, die es mochten, mit ihm zu arbeiten. Die auf ihn warteten und nicht ohne ihn anfangen konnten.

Und Kaja würde wahrscheinlich den halben Tag in Baumärkten und Läden für Künstlerbedarf verbringen. Vielleicht kam sie auch auf einen Sprung in einer der städtischen Galerien vorbei, um sich mit Bekannten auszutauschen. Leute, die daran interessiert waren, was sie zu sagen hatte und sie freudig nach ihrer Meinung fragten. Nur um anschließend Emails von Kunden zu beantworten, die auf eine ihrer Skulpturen warteten. Hunderte wollten etwas von ihr, an jedem Tag der Woche.

Jannik schnaufte missmutig. Er schnaufte, als er sich den Rucksack über die Schultern warf, als er den Schulparkplatz entlang trottete und als er sein Profil auf animali kontrollierte.

Fünf neue Nachrichten. Alle vom Schulaccount. Sonst nichts.

Er schnaufte noch einmal.




© 2017, Kranich im Exil

Editorial consultant: 1Wortmaler

Part of the collection "Weltenzoo"

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Tage im Juni - FREUNDE (1) - Ger

Kranich im Exil

The raccoon Niklas wants nothing more than to be accepted.
The lynx Jannik is longing for a friend.
The poodle Caspar would love to see the world burn.
And the lion Ayo is looking for good hair spray.



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