Sign In

Close
Forgot your password? No account yet?

Tage im Juni - SCHLÄGERTYPEN (3) - Ger by Kranich im Exil

Tage im Juni - SCHLÄGERTYPEN (3) - Ger


TAGE IM JUNI

Schlägertypen

- 3 -


Niklas' Bauch grummelte. Seine Ohren zuckten. Er konnte sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Weniger als sonst.

  Chucks ist kein Schläger, sagte er sich. Er hat noch nie jemanden fertig gemacht. Ich werde nicht der Erste sein. Er war der pummelige Tiger, das Knäuel aus sandgelbem Fell, das stets hinter Ayo und den anderen herlief. Was konnte er schon tun? Ihn knuffen?

Doch jeder Tiger hat Zähne und Krallen. Nicht wahr? Selbst die gemütlichsten.

Nur wenige kannten Chucks überhaupt. Kaum jemand schenkte ihm Beachtung. Außer jetzt.

Niklas warf einen kurzen Blick auf sein Handy. Sah das peinliche Foto vom Tiger und spürte erneut, wie sich seine Rückenhaare aufstellten. Er löschte es.

Chucks war ihm ähnlich. Leute beachteten den Waschbären ebenso wenig. Mochten ihn nicht. Und er mochte sie nicht. Manche lachten. Oder spotteten. Aber keiner schlug zu.

Er hätte etwas zu Chucks sagen sollen. Es tat ihm leid. Er biss sich auf die Lippe und verurteilte sich für seine Feigheit. Aber als die anderen Großkatzen um ihn standen, mit ihrem miesen Gelächter, den Zähnen und verzerrten Gesichtern — er hatte kein Wort herausbringen können.

Es war mies, dieses Lachen. Das Gegrinse. Es machte ihm Angst. Das Grinsen seiner Cousins. Aufgerissene Augen. Zähne.

Niklas hatte den Kopf auf den Schreibtisch gelegt. Bis Herr Glis ihn ermahnte, gerade zu sitzen und aufzupassen. Dann fuhr er fort über Kalkgebirge, Siphone und Grottenolme zu referieren.

Niklas entschied sich, nur so zu tun. Seine Gedanken wanderten umher. Aus dem Fenster. Zum Schulhof. Einige Schüler waren auf dem Weg zum Sportplatz. Er erkannte das rote Trikot von Keyon. Der Gepard ragte aus den anderen Schülern hervor wie ein Löwe unter Kätzchen. Niemand legte sich mit ihm an. Leute wagten nicht einmal, schlecht über ihn zu reden. Denn sie wussten, dass er stark ist, nicht zögert und nicht diskutiert. Er machte einfach was ihm gefällt. Und wenn es anderen nicht gefällt, Pech für sie.

Niklas fragte sich wie es wohl sei, in Keyons Haut zu stecken. Angesehen zu werden ohne Hohn. Ohne fauliges Lächeln und Falschheit. Stattdessen mit Freude und Bewunderung begrüßt zu werden. Von jedem gern gesehen. Sonne im glänzenden Fell.

Herr Glis versuchte die Tafel mit der Skizze eines Grottenolms zu verzieren.

So ein Olm musste es gut haben, dachte sich Niklas. Er scherte sich um nichts, sah nichts und lebte in absoluter Finsternis, auf dem Grund irgendeines Sees, in einer Höhle irgendwo an der Grenze von Weitweg zu Nirgendwo. Und wenn jemand auf die Idee käme, mehrere hundert Meter in eine feuchte Kalkhöhle hinabzuklettern, um im Dunkeln einen blinden, nassen und nackten Schwanzlurch anzuglotzen, dann war das dem Olm auch herzlich egal. Mehr noch: Es war ihm so egal, dass er es wahrscheinlich nicht einmal mitbekam.

Niklas stattdessen saß an seinem Schreibtisch und wünschte sich, dass ihm einfach alles egal wäre.

Der Wunsch wurde jedoch nicht erfüllt. Stattdessen kreisten seine Gedanken um die Frage, ob es vielleicht noch nicht zu spät war mit Chucks zu sprechen. Zu sagen, dass es ihm leid tat.

Er hatte in den Pausen Ausschau nach dem Tiger gehalten. Er war nirgends zu sehen gewesen. Nicht auf dem Schulhof. Nicht im Speisesaal. Nicht einmal im Medienclub. Wahrscheinlich musste er seine Klamotten säubern. Oder wechseln. Oder hielt sich irgendwo alleine auf. Abseits all jener, die lachen könnten.

Er starrte auf sein Handy. Vielleicht sollte er Chucks eine Nachricht hinterlassen. Aber er war nicht in seiner Freundschaftsliste. Niemand war in Niklas' Freundschaftsliste. Er betrachtete Chucks' Profil auf animali. Der Avatar zeigte einen Ausschnitt seines Gesichts. Ein lächelnder Mund und die charakteristischen Wangenstreifen.

Unter dem Profil waren eine Hand voll neuer Posts erschienen. Und das Foto.

  »fetti macht nicht mehr nur die kantine unsicher«, hieß es. »achtung! der hackbraten schlägt durch«

  »Mist«, raunte Niklas und schob das Handy beiseite.

Je weiter der Tag voranschritt, desto mehr hoffte er, dass Chucks' Abwesenheit einfach bedeutete, dass er nach Hause gegangen war. Vielleicht konnte er mit dreckigen und nassen Klamotten nicht am Unterricht teilnehmen und wurde heim geschickt. Vielleicht wollte er die Sache einfach vergessen und würde nie wieder darüber sprechen.

Herr Glis schrieb einige Seitenzahlen an die Tafel. »Lest bitte die Kapitel zwei bis vier und geht die Aufgaben durch. Die Ergebnisse sammle ich morgen ein.«

  Toll. Noch mehr Lesen. Frau Gruber hatte Niklas bereits zwei zusätzliche Kapitel dafür aufgedrückt, dass er zu spät gekommen war. Jetzt hatte er eine Nacht voller Grottenolme und Riesenschachtelhalme vor sich.





Die Sonne begann ihren Rückweg zum Horizont. Als Niklas das Schulgebäude verließt, strömte ihm trockene und schwere Luft entgegen, die manchmal durchschnitten wurde vom ersten kühlen Wind des nahenden Abends.

Er verharrte kurz auf dem Parkplatz und blickte sich zögerlich um, als erwartete er, dass der Tiger jeden Moment mit kreisenden Fäusten auf ihn zugestürmt käme. Doch er war nirgends zu sehen. Die anderen Schüler verließen das Gelände und bald schon war er alleine.

Auf was wartete er überhaupt? Darauf, mit Chucks zu reden? Sich zu entschuldigen? Darauf, von ihm Prügel einzustecken?

Er sah auf sein Handy. Auf Chucks' Profil. »Es tut mir leid«, tippte er. Nein. Er editierte: »Es war keine Absicht.« Nein! Editierte: »Ich wollte nicht, dass du im Mülleimer —« Nein, nein! Er fuhr sich wild durch die Haare und schnaufte. Entschuldigungen waren schwer.

Mit Mühe setzte er ein paar versöhnliche Worte zusammen und sendete sie. Er fühlte sich dadurch jedoch nicht besser. Nur anders.

Er blickte auf. Nichts tat sich. Er beschloss, seinen Heimweg fortzusetzen und zog die Kopfhörer über die Ohren. Irgendein Lied.

Der Parkplatz grenzte an einen kleinen Kiefernhain, der Schatten und etwas Abkühlung bot. Licht fiel hier und da auf den moosigen Boden. Es ließ die demolierten Bänke und umgeworfenen Mülleimer fast malerisch wirken. Heute war Niklas allerdings nicht mehr danach zumute, neues Material für seine Falle zu suchen.

Nach ein paar Metern fiel sein Blick auf eine Person, die hinter einigen Stämmen sichtbar wurde. Er hielt sofort an und starrte ihr entgegen. Nun war es doch soweit.

Der Tiger bemerkte den Waschbären ebenfalls und setzte sich in Bewegung. Seine Schritte wirkten bestimmt. Niklas blieb einfach regungslos stehen und beobachtete Chucks, wie dieser näher kam. Seine Schritte wurden langsamer. Einige Meter vor ihm hielt er an. Sein Gesicht war verkniffen.

Er hatte sein Versprechen eingehalten. Niklas fragte sich, ob er sich den ganzen Tag dort versteckt hatte.

Das durch die Äste fallende Licht warf helle Flecken auf ihn. Niklas erkannte, dass sein Shirt an einigen Stellen zerrissen war. Dunkle Stellen auf seiner Hose zeugten noch immer vom Unglück. Sie waren blasser geworden, aber trotzdem zu erkennen. Ein kaum merklicher Geruch von Schokolade lag in der Luft.

Beide starrten sich eine Weile an. Chucks' Fäuste waren wieder geballt.

  »Es tut mir leid«, sprach Niklas leise.

  »Toll«, entgegnete Chucks trocken.

Stille. Niklas trat von einem Fuß auf den anderen und kratzte sich nervös am Ellenbogen. Er hatte den Kopf gesenkt und betrachtete Chucks' verschmutzte Kleidung.

  »Ich kann das bezahlen«, bot er an, hatte aber keine Ahnung wie.

  »Ja? Kannst du auch dafür sorgen, dass es die anderen vergessen? Kannst du die Fotos löschen? Kannst du ihnen sagen, sie sollen aufhören mich auszulachen und anzuglotzen?« Chucks' Nasenrücken legte sich kurz in Falten, als er die Stimme hob. Dann starrte er sofort wieder auf den Bogen. Zupfte sich nervös am Kragen.

Niklas schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, antwortete er leise.

Wieder war es still. Sie blickten sich nicht an. Niklas' Augen wanderten ziellos über den Waldboden. Einige Ameisen inspizierten eine ausgetrocknete Schnecke.

  »Es ist scheiße!«, sagte Chucks. »Keiner beachtet mich. Keiner will was von mir«, er spielte an seinem Daumenballen herum, »und das ist okay. Leute lassen mich in Ruhe und wenn ich bei Ayo und den anderen bin, bin ich wenigstens ›der Tiger‹. Und jetzt bin ich der, der nach Müll stinkt und sich angekackt hat! Leute haben mich immer angeglotzt. Aber jetzt lachen sie. Und glotzen weiter.« — »Ich will lieber der sein, den niemand kennt, statt der Trottel, der Stinker, der Kleine, der Dicke, der Spasti —.«

Die Wörter flossen einfach aus seinem Mund und in seine Wut schien sich Verzweiflung zu mischen. Chucks kratzte sich zum x-ten Mal am Hals. Schluckte. Versuchte ruhig zu wirken.

In Niklas' Bauch machte sich ein flaues Gefühl breit. Er verstand, was Chucks meinte. »Ja«, erwiderte er nur.

Schweigen kehrte ein. Chucks schien bemerkt zu haben, dass er zu viel geredet hatte. Es schien ihm peinlich zu sein. Er sog mehrmals hörbar Luft durch die Nase ein und blies sie zwischen den Zähnen aus.

Er drehte die Schultern, um sie zu entkrampfen, räusperte sich und fügte nach langer Pause an: »Und darum mach ich dich jetzt fertig.«

Chucks zog die Augenbrauen herunter. Seine großen blauen Augen waren jetzt nur noch schattige Schlitze. Das Gesicht des Tigers wirkte dadurch so befremdlich.

Er ließ seinen Rucksack von der Schulter rutschen und warf ihn zur Seite. Er ballte die Pfoten zu Fäusten und hob sie vor die Brust. Senkte sie wieder ein Bisschen. Verlagerte sich auf den rechten Fuß. Dann auf den linken. Schien aber festzustellen, dass er lieber auf beiden stand. Er machte einen Schritt auf den Waschbären zu. Zögerlich, als fürchtete er, Niklas würde seinerseits gleich auf ihn springen.

  »Das hier ist doch blöd«, entgegnete Niklas.

  »Ja?«

  »Wir hauen uns — und dann?«

  »Dann bin ich der Tiger, der den Wasch— der das Müllgesicht verdroschen hat.«

Er machte einen weiteren Schritt auf Niklas zu, zog den Kopf ein und spannte die Schulter an.

  »Dann erzähl den anderen doch einfach, dass du mich verhauen hast. Und ich sage, dass ich von dir verhauen wurde. Wir müssen uns dafür nicht schlagen. Keiner wird es wissen.«

  »Doch«, entgegnete Chucks forsch. »Ich weiß es. Ich hab mich entschieden, dich fertig zu machen. Ich halte mich dran.« Er machte einen weiteren Schritt voran. Er zitterte. »Ich bin kein Verlierer. Ich stehe dazu.«

Er holte mit geballter Faust aus und ließ sie voranschnellen. Niklas versuchte auszuweichen und die Hände vor den Körper zu ziehen, aber es war zu spät. Chucks' Faust traf ihn an der Schulter.

Er fuhr zusammen und taumelte zurück. Fast wäre er zu Boden gegangen. Allerdings nicht durch den Schlag selbst, wenn man diesen überhaupt so bezeichnen konnte. Niklas hatte sich bisher noch nie geprügelt. Deshalb war es eher eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Überraschung, gepaart mit seinem kläglichen Versuch auszuweichen, bei dem er fast das Gleichgewicht verloren hatte. Auch der Tiger schien unerfahren zu sein. Er war mit Sicherheit kein Boxer, kein Kraftprotz — und dieser Schlag war kaum mehr als ein Knuff.

Niklas öffnete vorsichtig seine Augen. Er konnte Chucks' Herz wild schlagen hören. Das Gesicht des Tigers wirkte noch verkrampfter als zuvor. Steif wie eine Steinmaske. Er schnaufte wütend, als hätte ihm der Knuff bereits alle Kraft geraubt. Seine Nase und Ohren zuckten.

Mühevoll richtete er sich auf und setzte zu einem weiteren Versuch an. Er versuchte sich zu einem härteren Schlag zu überwinden, aber sein Körper schien sich gegen das Zuschlagen zu wehren.

  »Ich bin kein Verlierer!«, versuchte er seinen Mut zu beschwören, schluckte und zielte auf Niklas Gesicht. Diesmal schien er sicherstellen zu wollen, dass es weh tat.




© 2017, Kranich im Exil

Editorial consultant: 1Wortmaler

Part of the collection "Weltenzoo"

<´ェ`>


Tage im Juni - SCHLÄGERTYPEN (3) - Ger

Kranich im Exil

The raccoon Niklas wants nothing more than to be accepted.
The lynx Jannik is longing for a friend.
The poodle Caspar would love to see the world burn.
And the lion Ayo is looking for good hair spray.



The episodes of Tage im Juni (Weltenzoo) are originally published on FurAffinity. The reposted versions on Weasyl won't be updated and might contain errors and inconsistencies. For updated versions and the latest episodes check the FurAffinity account of Kranich im Exil.
There you can also find a log listing all episodes and updates.

Submission Information

Views:
841
Comments:
0
Favorites:
0
Rating:
General
Category:
Literary / Story